Liebe Leser,  

es war an einem Novemberabend im Jahr 1987*: Philip Brickell verkaufte in der Haupthalle der U-Bahn-Station King’s Cross in London Fahrkarten. Ein Pendler informierte ihn darüber, dass auf einer nahen Rolltreppe ein brennendes Tuch liege. Brickell machte sich sofort auf den Weg und schlug das Feuer mit einer gerollten Zeitschrift aus. Er stelle keine weiteren Nachforschungen an, erzählte niemandem von der Sache und rief auch nicht die Feuerwehr an. Für den Brandschutz war eine andere Abteilung zuständig. Die Dienstregeln der U-Bahn-Betriebsgesellschaft verboten es ihm, ohne direkte Genehmigung eines Vorgesetzten eine andere Abteilung zu kontaktieren.  

Fünfzehn Minuten später entdeckte ein Fahrgast eine Rauchfahne, als er auf der Rolltreppe in die Station hinunterfuhr. Er meldete dies einem U-Bahn-Mitarbeiter, der auf Geheiß seines Vorgesetzten den Sicherheitsinspektor von King’s Cross verständigte und ihn bat, der Sache nachzugehen. Der Sicherheitsinspektor konnte jedoch keinen Rauch feststellen und rief daher nicht die Feuerwehr. Denn eine weitere unbeschriebene Regel lautete: die Feuerwehr sollte nur benachrichtigt werden, wenn es absolut notwendig war. Ein Polizist, der den Rauch ebenfalls bemerkt hatte, dachte es sei eine gute Idee, das Präsidium zu verständigen. Da er jedoch unter der Erde keinen Empfang mit seinem Funkgerät hatte, musste er erst einen langen Treppenaufgang ins Freie nehmen. Er rief seine Vorgesetzte an, die schließlich die Feuerwehr verständigte – 22 Minuten nachdem Brickell auf das Tuch hingewiesen worden war. In der Zwischenzeit hatte ein Mitarbeiter die Rolltreppe mit einem Seil abgesperrt und die Fahrgäste wurden auf die Treppe umgeleitet. Dennoch fuhren weiter Züge ein, die Treppe wurde zunehmend zum Engpassfaktor.

Vor Jahren war aufgrund eines Brandes in einer anderen U-Bahn-Station eine spezielle Sprinkleranlage für die Rolltreppen in King’s Cross installiert worden. Nur wusste leider keiner der Beschäftigten, wie man die Sprinkleranlage bediente oder wie man die  Feuerlöscher entsicherte. Eine halbe Stunde nach der Entdeckung des brennenden Tuchs traf schließlich der erste Feuerwehrmann vor Ort ein. Mittlerweile stand die ganze Rolltreppe in Flammen. Das Feuer setzte ein überhitztes Gas frei, das in den oberen Teil des Schachts aufstieg und sich unter der Tunneldecke sammelte. Ein paar Jahre früher hatte ein Betriebsleiter darauf hingewiesen, dass die vielen alten Farbschichten an der Tunneldecke eine Brandgefahr darstellten und empfohlen, die alten Schichten zu entfernen. Aber für die Malerarbeiten war nicht er, sondern die Wartungsabteilung zuständig, deren Leiter sich für die Empfehlung bedankte und sich ansonsten verbat, dass sich jemand in seine Angelegenheiten einmische. Die alte Farbschicht begann nun, die Hitze zu absorbieren. Jeder Zug, der in die Station einfuhr, wirkte zudem wie ein Blasebalg, der frischen Wind in den Rolltreppentunnel fegte.

3 Minuten nach Eintreffen der Feuerwehr schlug eine Hitzedruckwelle in die Schalterhalle und verbreitete sich wie eine Feuerkugel. Kurz nach der Explosion trafen Dutzende von Löschfahrzeugen ein. Da die Feuerwehr jedoch Anweisung hatte, ihre Schläuche an den Straßenhydranten anzuschließen, anstatt die Hydranten in der Station zu nutzen, vergingen weitere wertvolle Minuten und es dauerte Stunden, bis das Feuer gelöscht war. Als der Brand schließlich 6 Stunden nachdem das brennende Tuch entdeckt worden war eingedämmt werden konnte, lautete die Opferbilanz 31 Tote und Duzende von Verletzten.  

Die einzelnen Abteilungen funktionierten im Regelbetrieb sehr gut und die Regelungen waren für sich genommen z.T. durchaus sinnvoll. Vor Jahren hatte die U-Bahn z.B. Probleme mit unbesetzten Schaltern und langen Warteschlangen. Mit Anweisung der Bediensteten, die Schalter nicht zu verlassen und sich ausschließlich auf den Fahrkartenverkauf zu konzentrieren, verschwanden die Warteschlagen. Ebenfalls vor einigen Jahren hatte die Feuerwehr kostbare Zeit bei einem anderen Brand verloren, als sie versuchten ihre Schläuche an Hydranten anzuschließen, die sie nicht kannten. Daher die Anweisung nur noch die bekannten Hydranten zu nutzen. Die Routinen schienen also vernünftig zu sein, die einzelnen Abteilungen funktionieren gut. Wie sich jedoch bei den nachfolgenden Untersuchungen herausstellte, hatte eine wesentliche, prioritäre Verantwortlichkeit gefehlt: für die Sicherheit der Fahrgäste war letztlich niemand verantwortlich – kein Beauftragter, keine Abteilung, kein Abteilungsleiter.  

Ähnlichkeiten oder Parallelen zu den Strukturen in Kliniken sind rein zufällig. Doch was, wenn Sie Ihre Organisation einmal aus dem Blickwinkel „ungeschriebene Gesetze“ oder übertriebenes Hierarchie- und Abteilungsdenken betrachten und darüber dann die Priorität Patientensicherheit und Patientengenesung (Rekonvaleszenz) legen?    

Im Namen des gesamten Teams der Ruhl Consulting AG wünschen wir Ihnen viel Spaß und spannende Erkenntnisse beim weiteren Lesen des Newsletters.   

Mit herzlichen Grüßen

Stefan Ruhl und Dr. Elke Eberts
(Vorstand der Ruhl Consulting AG)

*Vgl. C. Duhigg: Die Macht der Gewohnheit – Warum wir tun, was wir tun, Bloomsbury Verlag GmbH Berlin, 2012, S. 210-220