Gewaltfreie Kommunikation im Gesundheitswesen

"Warum sind Ärzte und Ärztinnen, Krankenschwestern und -pfleger so unglücklich?" Mit dieser provokanten Frage auf den ersten Seiten Ihres Buches "Gewaltfreie Kommunikation im Gesundheitswesen" bringt die amerikanische Autorin Melanie Sears eine ihrer Kernfragestellungen vor. Als gelernte Krankenschwester, die mehr als 25 Jahre in den verschiedensten Bereichen des amerikanischen Gesundheitswesens tätig war, hat sie selbst erlebt, wie schwierig es sein kann mit wachsendem Druck, steigender Arbeitsunzufriedenheit und Fluktuation innerhalb der Belegschaft umzugehen. Für sich selbst hat die Autorin den Weg der gewaltfreien Kommunikation als denjenigen entdeckt, der eingefahrene Hierarchien und verkrustete Strukturen durchbrechen und zu einer harmonischeren Zusammenarbeit aller Berufsgruppen mit und für den Patienten beitragen kann.  

Diesen Weg kann sich der Leser im Anschluss an eine kurze Einführung (Kapitel 1) erschließen. Notwendig hierzu ist zunächst eine kurze Skizze des Konzepts der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg (Kapitel 2). Neben der Definition, werden die vier Schritte (Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse, Bitten) gewaltfreier Kommunikation erläutert und zentrale Leitsätze vorgestellt.  

Im anschließenden dritten Kapitel geht die Autorin auf Unterschiede, Vor- und Nachteile sowie Auswirkungen des Dominanz- und Partnerschaftsmodells ein. Ihre These ist, dass sich generell das partnerschaftliche Modell auf dem Vormarsch befindet und das dominante, durch Hierarchie- und Statusdenken geprägte Modell des Zusammenlebens, wie es auch das Gesundheitswesen jahrzehntelang prägte, langsam verdrängt. In einem weiteren Schritt werden die Möglichkeiten, diesen Wandel zu fördern dargelegt. Dies umfasst für Sears insbesondere die Etablierung einer offenen Lern- und Fehlerkultur innerhalb der Krankenhäuser.  

Aufbauend auf den Unterschieden zwischen Dominanz- und Partnerschaftsmodell, lenkt die Autorin den Blick der Leser im folgenden (Kapitel 4) auf die sprachliche Dynamik, der Mitarbeiter im Gesundheitswesen ausgesetzt sind. Die Wirkung der Sprachmuster - nämlich die Anpassung der eigenen Wahrnehmung an die Urteile anderer - die sich hinter den Begriffen Beurteilung, Diagnose oder Etikettierung verbirgt, wird detailliert erörtert. Zudem wird unter Zuhilfenahme eines anschaulichen Fallbeispiels beschrieben, wie alle Beteiligten und letztlich das Krankenhaus als Wirtschaftsorganisation unter einer fehlenden harmonisierten Mitarbeiterschaft leiden (vgl. Kapitel 4.2).  

In Kapitel 5 stellt die Autorin die vorab skizzierten Überlegungen zur Dynamik der Dominanz nun anhand des Beispiels einer psychiatrischen Station nochmals praxisnah vor. Ziel dieser Erläuterung ist es v.a. darzustellen, wie man in eingefahrenen Systemen intervenieren kann.   Abschließend zeigt Melanie Sears auf, welche Rolle Ehrlichkeit bei der Umsetzung des Prinzips der gewaltfreien Kommunikation in Pflegesystemen spielt (Kapitel 6). Das Kapitel schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung von "Elf Ideen für erste Schritte, um Gewaltfreie Kommunikation an Ihrem Arbeitsplatz einzuführen" (Kapitel 6.9).  

An die Ausführungen von Sears fügt sich ein kurzer, sehr lesenswerter Beitrag von Al Weckert zum Thema "Lässt sich Empathie erlernen? Weiterbildungskonzepte für Gewaltfreie Kommunikation in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Arztpraxen und mobilen Diensten" an.  

Auffallend im gesamten Buch ist die häufige und durchweg gelungene Bezugnahme auf Praxisbeispiele. Diese kommen meist aus dem Berufsalltag der Autorin und ermöglichen einen direkten Bezug zum Gesundheitswesen. Generell gilt, dass die Zielgruppe des Buchs – Mitarbeiter aller Berufsgruppen im Krankenhaus sowie Patienten – aufgrund der praxisnahen Darstellung als Leser gut abgeholt werden. Trotz einer gewissen Detailtreue, schafft es Sears Buch in die Tiefe zu gehen, ohne langatmig zu sein.  

Als Leser glaubt man der Autorin, wenn Sie im Vorwort davon erzählt, wie begeistert und überzeugt, sie von der Methode der Gewaltfreien Kommunikation ist – authentisch schildert sie im Verlauf des gesamten Werkes ihre Überzeugungen. Ob Sears Hoffnung, durch ihr Buch "einen Beitrag zu einer friedlicheren Welt und einem stärker von Mitgefühl geprägten Gesundheitssystem leisten" zu können, tatsächlich in Erfüllung geht, muss schlussendlich jeder Leser für sich selbst beantworten, indem er sich und seine Situation reflektiert und das Gelesene annimmt – oder auch nicht.  

Sears, Melanie: 
Gewaltfreie Kommunikation im Gesundheitswesen     
Jungfermann, Paderborn 2012. 

» Jetzt bestellen bei Amazon

 

Leseecke