Liebe Leser,  

substanzielle Veränderungen umzusetzen ist ein kräftezehrendes Unterfangen. Noch kraftaufwändiger erscheint es, Veränderungen nachhaltig auch zu leben. An jeder Ecke lauern die alten Gewohnheiten und Routinen, die uns schnell wieder in ihren Bann ziehen. In Unternehmen werden Veränderungen vielleicht ganz erfolgreich mit viel Energie eingeführt, doch schon nach wenigen Wochen schleichen sich alte Verhaltensweisen wieder ein und die neuen Prozesse oder Vereinbarungen werden umgangen. Wie schaffen wir es, Veränderungen nachhaltig im Unternehmen zu verankern - ohne permanente Kontrolle, Sanktionen und Druck? Ist Verhalten überhaupt dauerhaft wirksam zu beeinflussen? Und wenn ja, was braucht es dazu? Wir wollen hierzu auf ein drastisches Beispiel zurückgreifen: ein Positivbeispiel für Resozialisierung.*  

Um die Tragweite des Beispiels einzuordnen, seien zunächst die Daten einer großangelegten Studie mit 272.111 amerikanischen Strafgefangenen vorausgestellt: 30% der Haftentlassenen wurden bereits innerhalb von sechs Monaten und 67,5% innerhalb von drei Jahren rückfällig. Rechnet man die Dunkelziffer dazu, so liegt die Rate derer, die nicht mehr straffällig wurden, sicher unterhalb der 30%. Angesichts dieser Zahlen fällt es schwer zu glauben, dass Resozialisierungsvorhaben gut funktionieren können. In jedem Fall führen Bestrafungen alleine zu keinen neuen Verhaltensoptionen und dementsprechend selten dauerhaft zu Verhaltensänderungen. Und doch zeigt unser heutiges Beispiel, dass es unter den entsprechenden Rahmenbedingungen und der entsprechenden Hilfestellung möglich ist, dass Straftäter ihr Verhalten nachhaltig ändern und zu angesehenen Mitbürgern werden. Auch für Veränderungen in Organisationen lässt sich aus diesen Prinzipien sehr viel lernen.  

Die Delancey Street Foundation** in San Francisco nimmt Drogenabhängige und Schwerverbrecher aus staatlichen Gefängnissen auf. Diese haben die Wahl, erneut ins Gefängnis zu gehen oder aber an dem Programm teilzunehmen. Die Bilanz der Foundation ist erstaunlich: 60% der Teilnehmer schaffen es, das mehrjährige Programm bis zum Schluss zu durchlaufen, und werden danach nicht rückfällig.  

Um was geht es im Kern?
Die Straftäter in amerikanischen Gefängnissen haben oft eine lange Familienhistorie, die bereits durchzogen von Gewalt und Verbrechen ist. Sie sind in Gegenden aufgewachsen, die von Gewalt und Armut geprägt werden. Ein Umfeld, in dem Kindern oft nur bleibt, sich gegen all diese Bedrohungen gefühlsmäßig abzukapseln, abzustumpfen und nichts mehr an sich heranzulassen. Da sie nichts anderes kennen, als Gewalt und Armut, glauben sie nicht daran, dass es für sie ein anderes Leben geben kann. Wie sollten sie auch? Diese Straftäter haben also meistens nicht gelernt, empathisch, also mitfühlend zu sein. Gefühlskälte – und Betäubung mit Suchtmitteln, um nichts mehr spüren zu müssen – ist eine Form des Selbstschutzes, die das Überleben in diesem Umfeld erst möglich macht. Daher ist die Entwicklung von Empathie eine der kritischsten Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Verhaltensveränderung.  

Und hier ist auch der erste zentrale Erfolgsfaktor für Veränderung im Unternehmen: Finden Sie den kritischen Faktor, der verändert werden muss. Wir neigen dazu, in Veränderungen oft an zu vielen Stellschrauben zu drehen, anstatt uns auf den kritischsten Faktor zu fokussieren. Wichtig ist daher, die Ausgangssituation gut zu analysieren und den kritischen Faktor für die Veränderung herauszufiltern.  

Was kann permanente Wiederholung bestimmten Verhaltens bewirken?
Empathie ist ja kein abgespultes Verhalten, sondern eine Haltung. Ist Empathie erlernbar? In der Delancey Street Foundation üben die Teilnehmer Empathie ein – auch wenn sie sie im ersten Schritt gar nicht empfinden können. Dazu muss jeder der Teilnehmer Verantwortung für einen anderen übernehmen. Wenn jemand z.B. in einem der Restaurants bisher noch nichts gelernt hat außer wie man Besteck auflegt, dann bringt er eben das einem Neuling bei. Das schafft Verbindung zwischen den Menschen. Zu Beginn sind die Sträflinge unmotiviert – viele kommen in das Programm, weil sie denken hier leichter durchzukommen als im Gefängnis. Und jetzt das Interessante: Das ständige Wiederholen eines Verhaltens, bei dem die Teilnehmer so tun, als ob sie sich um andere kümmern, führt dazu, dass sie tatsächlich irgendwann auch etwas für die anderen empfinden und Verantwortung für sie übernehmen.  

Es gelingt durch das Einarbeiten und die Begleitung der Neuen mit der Weile, dass eine gute menschliche Verbindung geknüpft wird. Im Kern handelt sich dabei um ein „Rollen“-Spiel. Verhalten in den relevanten Momenten wird dabei kontinuierlich wiederholt und prägt sich so immer tiefer ein. Es entsteht wie nebenbei Stolz und ein neues Selbstwertgefühl durch das in sie gesetzte Vertrauen, die Verantwortung für die Anderen zu übernehmen. V.a. aber ändert sich Stück für Stück das eigene Reden, Denken und Fühlen. Irgendwann empfinden die Menschen tatsächlich Zuneigung und Verantwortung für Andere. Wenn neues Verhalten zur Gewohnheit geworden ist, ist die Persönlichkeit und ihre Ausstrahlung eine andere. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass Empathie über das Training von Verhaltensmustern erlernbar ist und so tiefgreifende Veränderungen möglich werden. Das macht Mut, dass es sich am Ende lohnt, all die nötigen Anstrengungen in Kauf zu nehmen.  

Mittlerweile hat die Delancey Street Foundation über 18.000 Absolventen. Sie betreibt Umzugsfirmen, Restaurants, Buchhandlungen und verkauft Weihnachtsbäume, in denen die ehemaligen Straftäter arbeiten. Aus den Umsätzen finanziert sich die Organisation vollständig ohne staatliche Zuschüsse.  

Einstellungsänderungen als Voraussetzung nachhaltiger Veränderung sollten so jedem Menschen grundsätzlich möglich sein. Doch natürlich braucht es dazu noch jede Menge mehr. Wenn ich z.B. beginne, mit anderen mitzufühlen, muss ich mit meinem Leben neu zurechtkommen. Lesen Sie im nächsten Newsletter, wie die Delancey Street Foundation mit wesentlichen Stolpersteinen auf dem Weg der nachhaltigen Veränderung umgeht.   

Im Namen des gesamten Teams der Ruhl Consulting AG wünschen wir Ihnen heute viel Spaß und spannende Antworten beim weiteren Lesen des Newsletters.   

Mit herzlichen Grüßen

Stefan Ruhl und Dr. Elke Eberts
(Vorstand der Ruhl Consulting AG)  

 

 * vgl. hierzu Groth, A.: Führungsstark im Wandel: Change Leadership für das mittlere Management, Campus Verlag; Auflage: 2 (9. März 2013), S. 147 ff., siehe auch unsere Rezession im Mai/Juni
** www.delanceystreetfoundation.org mit dem Zitat des Psychiaters Karl Menninger (1893-1990) zu der mittlerweile mit Dutzenden von Preisen ausgezeichneten Organisation: "Delancey Street is an incredible mixture of pure idealism and hard practicality. It is the best and the most successful organization I have studied in the world."