Liebe Leser,  

im Jahre 1970 führte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky eine Untersuchung durch, die eigentlich die Adaption von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen in Israel an das Klimakterium beinhalten sollte. Aus dieser Untersuchung heraus wurde die Lehre der Salutogenese geboren. In der Gruppe der untersuchten Frauen befanden sich Frauen, die zwischen 1914 und 1923 in Mitteleuropa geboren worden waren und die somit 1939 zwischen 16 und 25 Jahren gewesen waren. Antonovsky hatte eher zufällig eine simple Ja-Nein Frage zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager gestellt. Wie die Ergebnisse zeigten, verfügten 29 Prozent der Frauen, die das Konzentrationslager überlebt hatten, über eine gute psychische Gesundheit. Antonovsky beschreibt dies wie folgt: „Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschließend jahrelang eine deplatzierte Person gewesen zu sein und sich dann ein neues Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte...und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetisches Modell bezeichnet habe [...].“* Diese Erfahrung brachte Antonovsky dazu sich auf den Ursprung von Gesundheit zu konzentrieren und zu erforschen, was dazu führt, dass Menschen sich auf der positiven Seite des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums befinden.  

Nach Antonovsky befähigt ein starkes Kohärenzgefühl einen Menschen dazu, seine Bewältigungsstile flexibel an die momentanen Umstände anzupassen, also seine Ressourcen optimal auszuschöpfen. Antonovsky definiert dabei das dazu notwendige Kohärenzgefühl als eine Art globaler Orientierung, die sich durch drei Komponenten näher beschreiben lässt:  

1. Verstehbar: Ein Mensch, der seine Umwelt als kognitiv verstehbar einschätzt, erlebt sie als geordnet, strukturiert, konsistent und erklärbar. Menschen, die ein hohes Maß an Verstehbarkeit empfinden, gehen davon aus, dass auch zukünftig eintretende Ereignisse, selbst wenn sie überraschend eintreffen, eingeordnet und erklärt werden können.
2. Bewältigbar: Das Ausmaß, in dem ein Mensch annimmt, dass er selbst oder sein soziales Umfeld die Anforderungen, die die Umwelt an ihn stellt, bewältigen kann.
3. Sinnhaft: Der Sinnbezug oder die Bedeutsamkeit sieht Antonovsky als entscheidend für die Stärke des Kohärenzgefühls. Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl haben Bereiche in ihrem Leben, die ihnen wichtig genug sind, um emotional in diese zu investieren. 

Neben der Bedeutung die diese Komponenten für die Gesundheit des Einzelnen haben, lassen sie sich auf den unternehmerischen Kontext übertragen. Sie geben Führungskräften insbesondere in Veränderungsprozessen Gestaltungsperspektiven an die Hand, um Kohärenzgefühl und Vertrauen zu stärken:

  • Sind die Ziele und Vorgehensweisen des Vorhabens verstehbar, erklärbar und vorhersehbar?   
  • Sind der notwendige Gestaltungsspielraum und die Ressourcen vorhanden, um das Vorhaben zu bewältigen?
  • Lohnt es sich für den Einzelnen, die Anstrengungen in Kauf zu nehmen. Macht das Engagement Sinn?   

 Gerade in Veränderungsprozessen ist die „Verstehbarkeit“ zentral. Dabei spielen nicht nur die Inhalte der Veränderung eine große Rolle, sondern auch die Gestaltung. Das Wissen über das schrittweise Vorgehen gibt genauso Orientierung wie Gründe und Ziele der Veränderung. Die Frage nach der „Bewältigbarkeit“ beinhaltet ebenfalls verschiedene Perspektiven: Dazu zählt zum einen die Frage nach vorhandenen Kompetenzen und den Möglichkeiten diese unter den neuen Anforderungen weiterzuentwickeln, zum anderen aber auch Fragen hinsichtlich der gegebenen Gestaltungsspielräume für die Mitarbeiter, der Möglichkeit selbst Einfluss zu nehmen und verantwortlich Inhalte mitzugestalten. Die stärkste Komponente ist die des „Sinnbezugs“. Hier gilt es als Führungskraft die übergeordnete Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit der Veränderung für alle Mitarbeiter greifbar darzustellen und ihnen die Möglichkeit zu geben mit ihrem eigenen Sinnempfinden anschließen zu können. Ist das gegeben, dann lassen sich viele äußere Umstände mit der Perspektive auf den tiefen Sinn ertragen.  

Dahinter steht ein Ansatzpunkt, sich mit seinen Gefühlen im Positiven wie im Negativen lebendig zu verbinden, ohne sich jedoch von Ihnen abhängig zu machen oder sich von ihnen zerstören zu lassen. Ohne das Kranke können wir das Gesunde nicht erkennen, ohne das Dunkle nicht das Helle, ohne den Schmerz nicht die Glückseligkeit, ohne die Tiefen nicht die Höhen, ohne das Yin nicht das Yan. Das eine ist stets bereits im anderen enthalten. Wir entscheiden, worauf wir unseren Fokus richten. Die Frage nach Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit zeigt uns einen Weg auf, Gefühle lebendig zu halten und mit ihnen in einen inneren Frieden zu kommen.  

Im Namen des gesamten Teams der Ruhl Consulting AG wünschen wir Ihnen heute wahrhaft viel Spaß und spannende Antworten beim weiteren Lesen des Newsletters.

Mit herzlichen Grüßen

Stefan Ruhl und Dr. Elke Eberts
(Vorstand der Ruhl Consulting AG)  


 * Vgl. A. Anontovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit, dgvt-Verlag, Tübingen 1997, S. 15